Einschätzung der aktuellen politischen Situation von A. Schölzel 1. Der entscheidende gesellschaftliche Vorgang, mit dem wir es zu tun haben, ist die Weltwirtschaftskrise. Sie wurde durch die Pandemie beschleunigt, begann aber bereits Mitte 2019. Ihr Verlauf kann nicht vorhergesagt werden, fest steht nur, dass die herrschende Klasse alles tun wird, um die Kosten auf die Arbeiterklasse und alle Werktätigen abzuwälzen. Die Situation für große Teile von ihnen ist in den USA bereits katastrophal. Die Aufstände gegen rassistische Gewalt haben auch diesen Hintergrund. Es besteht die Gefahr, dass möglicherweise 40 Millionen US-Bürger ihre Mietwohnungen verlieren, viele leben bereits in ihren Autos. Wir müssen uns auf Situationen einrichten, die in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellos sind. 2. Beispiellos ist bereits der Handelskrieg, den die drei großen Wirtschaftsblöcke – USA, China und EU – untereinander austragen. Es geht um die Konkurrenz bei der Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Revolution, um Währungsstabilität, um Geopolitik, aber auch um den Klimawandel und den Erhalt von Biodiversität. Der deutsche Imperialismus will die Krise nutzen, um seine Führungsposition in der EU auszubauen. Die als Kehrtwende in der deutschen EU-Politik verkauften Finanzmodelle sind eine andere Variante der bisherigen supranationalen staatsmonopolistischen Regulierung, die im Kapitalismus nichts anderes sein kann als Deregulierung, d. h. Vorbereitung der nächsten Krise. Die Finanzmittel, die Merkel, Macron und von der Leyen auf den Weg gebracht haben, umfassen insgesamt mehr als zwei Billionen Euro. Die Größe der Summe lässt ahnen, wie groß die Gefahren sind, die sie befürchten. Angesichts der globalen Konkurrenz und dem Austritt Großbritanniens kann sich die EU, kann sich der deutsche Imperialismus nicht mehr das Verfahren von 2010 leisten: Sich auf Kosten aller anderen EU-Staaten sanieren und – wie im Fall Griechenland – mit Hilfe der sogenannten Troika einen ganzen Staat in die Knie zwingen und dessen arbeitende Bevölkerung durch Streichen des Sozialstaats zu verelenden. Wenn deutsche Waren in Südeuropa gekauft werden sollen, dürfen weder Italien noch Spanien bankrottgehen. Offensichtlich sind die Zentralbanken gewillt, die Krise durch Gelddrucken abzuschwächen. Der positive Aspekt aus Sicht der Arbeiterklasse dabei ist, dass die herrschenden Klassen in der EU es – anders als in den USA – nicht riskieren, den Lebensstandard radikal zu senken. 3. Beispiellos ist das wirtschaftliche Desaster in den USA, das durch Trumps Politik verstärkt wird. Denn beispiellos ist, dass im Mai der Terminpreis für eine bestimmte Sorte Rohöl auf einen negativen Wert von 37,63 US-Dollar pro Fass fiel, der größte Rückgang in der Geschichte – erstmals ein Preis unter Null. Hintergrund ist das Überangebot an Erdöl in den USA, das durch die Frackingindustrie produziert wurde und das Land für einige Zeit zum größten Öl- und Gasproduzenten der Welt gemacht hat. Nun sieht es so aus, als ob diese Industrie in der Krise vernichtet wird, weil sie insbesondere mit den Preisen russischen und saudi-arabischen Erdöls nicht mithalten kann. Als Russland sich Anfang des Jahres weigerte, wie 2015 der von Saudi-Arabien vorgeschlagenen Förderreduzierung zuzustimmen, weil die Öl- und Gasindustrie der USA davon unberührt geblieben wäre, sanken die Ölpreise im April auf ein 70- Jahres-Tief – mit entsprechenden Folgen für die Branche in den USA. Bereits vor Covid-19 im März brachen ungezählte Betriebe der Fracking-Industrie zusammen. Ein Zusammenbruch der gesamten Branche aber kann verheerende Folgen für die US-Banken haben, die Milliarden Dollar investiert haben. Und es geht um Millionen Trump-Anhänger in den Belegschaften, die seine Anti-Umweltpolitik zum Erhalt ihrer Arbeitsplätze mitgetragen haben. Diese sind jetzt aufs äußerste gefährdet. Wenn nun also die Stadt Sassnitz wegen Nord Stream 2 von drei US- Senatoren mit geschäftlicher „Vernichtung“ bedroht wird, hat das einen konkreten Hintergrund. Sie stehen vor dem Abgrund. 4. Laut einer Analyse der sozialistischen US-Zeitschrift „Monthly Review“ (MR), die wir im Oktoberheft des RotFuchs veröffentlichen wollen, stärkte der Ausbau der Öl- und Gasindustrie in den USA die aggressivsten Kräfte des Landes im Kampf gegen unbotmäßige Ölstaaten wie Venezuela und Iran. Solange die USA auf Importe von dort angewiesen waren, verzichteten sie auf Beschlagnahme von Vermögenswerten und auf eine Politik am Rande des Krieges. Das änderte sich bereits unter Obama und wurde von Trump gegen den Iran – direkt angeheizt durch Israel – mit Attentaten und militärischen Schlägen eskaliert. Ich zitiere MR: „Als strategische Angelegenheit hatte die Aggression gegen Venezuela und den Iran weitere Auswirkungen in ganz Lateinamerika und im Nahen Osten, gerade wegen des geschwundenen Einflusses der beiden antiimperialistischen ölproduzierenden Staaten, die angegriffen wurden. Die Rücknahme der "Rosa Flut" in Lateinamerika und der von den USA unterstützte Krieg gegen Syrien wurden so auch durch die Flut der Fracking-Ölförderung in den Vereinigten Staaten ermöglicht.“ Anders gesagt: Der positive Aspekt beim Zusammenbruch der FrackingIndustrie in den USA könnte sein, dass die Kriegsgefahr für diese beiden Länder sinkt. Und damit die Atomkriegsgefahr, denn beide Länder wurden und werden von Russland und China unterstützt. Allerdings, darauf macht MR auch aufmerksam: Die Folgen der Fracking- Industrie für die Klimakrise sind noch unabsehbar. 5. Der deutsche Imperialismus nimmt eine führende Rolle bei der Kriegsvorbereitung gegen Russland ein. In dieser Hinsicht folgt er den Kräften, die von den US-Demokraten repräsentiert werden. Trump und die Republikaner betrachten Russland offenkundig nicht als nächsten Gegner, auch wenn sie mit einem Manöver wie „Defender 2020“ das Pulver trocken halten und die atomare Aufrüstung vorantreiben. Diese Kräfte betrachten offensichtlich China als nächsten militärischen Gegner. Joseph Biden, der für Obama faktisch den Putsch in der Ukraine geleitet hat, oder Kamala Harris als US-Führung wären aber in dieser Hinsicht für den Frieden in Europa eine enorme Gefahr. Vor allem würden sie in Berlin rasch Verbündete finden, wie sich am Beispiel Belarus oder am Theater um Nawalny zeigt. Die aggressivste Kriegspartei Deutschlands sind gegenwärtig die Grünen, das macht sie kanzlerfähig. Cem Özdemir hat gestern in der Bild am Sonntag einen Kommentar getitelt: „Das Putin-Regime geht über Leichen“. Das ist Goebbels und das ist Nazi-Propaganda noch einmal, das ist kriegsvorbereitende Hetze. Und es ist für die Grünen repräsentativ. Die Regierungsparteien verhalten sich gemäßigter und fahren eine Doppelstrategie, die in der deutschen Geschichte Tradition hat: Mit Russland Handel treiben bis zum Beginn des Krieges, den man vorbereitet. Das ist seit den Napoleonischen Kriegen so und sie versuchen es erneut in der Hoffnung auf eine Schwächeperiode Russlands oder sogar Zerfall. Was mit der Sowjetunion geklappt hat, soll sich wiederholen. Belarus ist insofern ein Versuchsfeld, allerdings sieht Berlin die Zeit noch nicht als reif, um den Umsturz herbeizuführen. Warschau und Wilnius betreiben den mehr oder weniger auf eigene Rechnung, allerdings mit finanzieller Unterstützung der EU. Die Arbeiterklasse von Belarus ist aber nach Einschätzung von Gennadi Sjuganow in ihrer Mehrheit nicht bereit, den Privatisierungslosungen der Opposition zu folgen. Russland und die Ukraine schrecken ab. Bewaffnete Provokationen sind allerdings jederzeit möglich. „Defender 2020“ hätte direkt an der Grenze zu Belarus stattgefunden. 6. In beispielloser Weise macht sich der deutsche Imperialismus außenpolitisch selbständig – bei aller Abstimmung mit Frankreich und anderen EU-Staaten. Die Konkurrenz zwischen EU und den USA und die eigenen Interessen zwingen dazu. Großbritannien hat durch seinen Austritt seine Funktion als Deutschland auch einhegender Faktor aufgegeben. Das betrifft die baltischen Staaten, deren Außenpolitik man nicht allein Washington überlassen will, das betrifft das Auftreten im Nahen und Mittleren Osten, siehe die ebenfalls beispiellose Konfrontation gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien gegen die USA in Sachen Iran. Maas fährt noch Moskau, um dort zu drohen, taucht im Nahen Osten und in Nordafrika auf – man richtet sich auf der Position einer Weltmacht im Werden ein. 7. Es kennzeichnet die sogenannte Strategiediskussion der Partei Die Linke vor dem Erfurter Parteitag vom 30. Oktober bis 1. November in der Linkspartei, dass die Frage von Krieg und Frieden, die Charakterisierung der Rolle des deutschen Imperialismus, eine klare friedenspolitische Haltung gegenüber Russland nur bei wenigen Genossinnen und Genossen eine Rolle spielen. Und es ist noch schlimmer gekommen. Am 16. August hat Dietmar Bartsch im Deutschlandfunk in einem Interview die Katze aus dem Sack gelassen. Er erklärte die Absicht, mit den Parteien, die die NATO-Politik mittragen, in eine Koalition zu gehen, und erklärte in dem Zusammenhang, man sei „am Ende des Tages … auch auf diesem Feld regierungsfähig“. Es sei absurd zu glauben, die Linke wolle eine Auflösung der NATO zur Voraussetzung für einen Regierungseintritt machen. Ähnlich äußerte er sich zur Haltung der Partei zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr. Man habe schon in der Vergangenheit unterschiedlich dazu abgestimmt. Es sei absurd anzunehmen, Linke würden sich an dem Tag, an dem ihre Partei Regierungsverantwortung übernehme „in die Flugzeuge setzen und die Jungs zurückholen“. Das ist ein Schlag gegen die Friedensbewegung und gegen die eigene Partei, in deren Programm das Gegenteil steht. Aus der Friedensbewegung gibt es einen Aufruf an die Partei Die Linke, der heute veröffentlicht wird, diese Politik nicht in die Realität umzusetzen, weil sie den Interessen der Menschen in den Kriegsgebieten und auch in unserem Land widerspricht. Diesen Aufruf haben neben vielen parteilosen Aktivistinnen und Aktivisten auch zahlreiche Politiker der Partei Die Linke unterzeichnet. (Im Internet: frieden-links.de). Die von Bartsch eingeschlagene Richtung kann verheerende Folgen für die Partei und die Friedensbewegung haben. Letztlich nähert sich die Partei einer Situation, die mit der von 1914 in der SPD zu vergleichen ist. 8. Ein Resultat der Krise des Kapitalismus ist die weiter wachsende Kriegsgefahr. Wir wissen, wie gesagt, noch nicht, wie tief diese Krise gehen wird, zu welchen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen es kommen wird und – und welche politischen Kräfte das Heft am Ende in die Hand nehmen. Der Übergang zu autoritären Herrschaftsformen ist weit vorangeschritten, faschistische Kräfte sind in vielen Ländern auf den Vormarsch, daran ändert die zeitweilige Schwächung der AfD nichts. Sie ist als Reserve der aggressivsten Kräfte des Monopolkapitals fest etabliert. Entscheidender, weil alle bürgerlichen Medien und die bürgerlichen Parteien betreffend, ist die nationalistische Mobilisierung in allen imperialistischen Hauptländern. Solidarität und Internationalismus werden systematisch bekämpft. Das ist die ideologische Begleitung einer beispiellosen Aufrüstung der NATOStaaten. Sie heizen die Kriege in der Welt mit Waffenlieferungen an, auch Deutschland ist vorn mit dabei. Die angekündigten Truppenabzüge aus Afghanistan und dem Irak sind ausgeblieben, die Militärbasen des Westens verschwinden ohnehin nicht aus diesen Ländern. Sie sind gegen Russland, China und den Iran verwendbar oder werden schon verwendet. Das System der Rüstungskontrollverträge und Abrüstungsverträge, das die Sowjetunion mit den USA geschlossen hatte ist von diesen zerstört worden, der New Start-Vertrag dürfte im Februar 2021 auslaufen. Die Aufrüstung der NATO mit neuen, “smarten“ Atomwaffen geht weiter, das betrifft auch die in der Bundesrepublik für die „Nukleare Teilhabe“. Es ist schon ein Symbol für die neue Position des deutschen Imperialismus, wenn die Bundesluftwaffe mit der Israels erstmals über deutschem Territorium übt, d. h. mit dem aggressivsten Staat im Nahen Osten, der eine lange Erfahrung mit illegalen Bombardierungen vom Iran und Irak bis jetzt in Syrien hat. Davon will man offensichtlich lernen. Die neusten Drohnen, die die Bundeswehr aus Israel bezieht, sind waffenfähig. In dieser Situation der Friedensbewegung in den Rücken zu fallen, wie das Bartsch getan hat, ist verheerend. 9. So ist es kein Wunde, wenn Wut und Protest gegen die eigene soziale Lage und die Kriegspolitik von rechten, ja sogar faschistischen Kräften aufgegriffen und demagogisch umgewendet werden, um von Kriegsgefahr und Klassenkampf von oben abzulenken. In den USA war das das Erfolgsrezept von Trump, der durchaus Aussichten hat, auf einer Welle sozialer Demagogie wiedergewählt zu werden: Als Fast- oder echter Milliardär angeblich gegen die da oben, gegen die Anarchie der Linken und gegen den inneren Feind, den tiefen Staat, der ihn angeblich nur behindert. Das besagt hierzulande die Entwicklung der AfD seit 2013, einer Partei, deren rund 35.000 Mitglieder zu einem großen Teil aus Bundeswehr, Polizei, Justiz und den Geheimdiensten kommt, die aber behauptet, keinen Krieg gegen Russland betreiben zu wollen. Das besagt die Geburtshilfe von AfD-Leuten und Neonazis bei einigen Montagsmahnwachen 2014, etwa in Berlin und in Sachsen, als sie mit dieser Losung auftraten. Das zeigen die Versuche dieser Leute, als sie 2015 die Migration zum allesbeherrschenden Thema zu machen versuchten und damit auch bei einigen Linken Erfolg hatten. Das zeigen ihre Versuche, den Protest gegen die Einschränkungen wegen der Pandemie zu kapern. Es ist noch nicht entschieden, ob das gelungen ist, die Vorgänge zeigen aber, welches Potential Wahnvorstellungen inzwischen in dieser Gesellschaft entfalten. Das hat allerdings Parallelen zu 1933, als große Wissenschaftler unter dem Beifall systematisch verdummter Massen und faschistisch gesinnter Wissenschaftler außer Landes gejagt wurden. Berlin, das bis dahin so etwas wie das Mekka für Mathematiker, Physiker und Mediziner in der Welt war, ist seitdem eine Wissenschaftsprovinz. Es waren Leute jenes Schlages, die heute Virologen bedrohen oder beschimpfen, die sozusagen den USA die Atombombe „schenkten“. Am kommenden Sonnabend wollen diese Leute also die größte Demonstration der Weltgeschichte in Berlin organisieren, was sie nicht wäre: In Indien gab es schon eine mit 100 Millionen Teilnehmern. Auch massenhafter, gezielt verbreiteter Wahn gehört zu den Gefahren unserer Zeit. Und es bleibt nicht aus, dass unter dem sozialen Druck in den Gegenden, in denen die Rechten politisch fest verankert sind, auch Genossinnen und Genossen schwanken oder überlaufen. Das alles charakterisiert unsere gestiegene Verantwortung. Virenfrei. www.avast.com